Impulse für ein natürliches Leben
Sonntag, der 25.Oktober 2020
Mein liebes Tagebuch,
es scheint als sei ich zurück im „Hier und Jetzt“. Zumindest heute für diesen Augenblick. Mein Befinden hat sich etwas gebessert und (wie eigentlich immer) kommt mit dem besseren Befinden auch die bessere Stimmung, die Zuversicht zurück.
Gleichzeitig wird mir aber auch klar, dass sich wie mit jedem Schub der Erkrankung , mit jeder Verschlechterung meines Zustandes, sich auch dieses Mal wieder die Angst vor dem Tod, die da immer irgendwie im stillen Kämmerlein vor sich hin wabert, eingeschlichen hatte.
Ja, wer ihm einmal begegnet ist, der kann ihn nicht mehr vergessen. Der weiß einfach, dass er Realität ist. Nicht nur andere sterben, auch man selbst ist vom Tod betroffen, irgendwann, früher oder später.
Ich weiß es schon lange, dass es gilt ihn anzunehmen. Und trotzdem war es doch irgendwie wie jedes Mal. Immer dann wenn es mir schlechter geht versuche ich irgendwo im Außen Halt zu finden. Suche nach irgend jemandem , nach irgend etwas, das mich ablenkt. Nach irgendetwas was ihn zudeckt, ihn unsichtbar werden lässt, ihn quasi seiner Existenz beraubt. Ich werde nörgelig, zickig , bockig….zücke alles was mir an Abwehr zur Verfügung steht, nur um nicht spüren zu müssen, was ich ohnehin schon lange weiß, dass Leben in letzter Konsequenz nun einmal auch sterben heißt.
Ich weiß es , ja ich weiß es ganz genau, dass dies nicht der Weg sein kann. Dass ich damit alles nur viel schlimmer mache, für mich….aber vor allen Dingen für die Menschen die ich liebe…
Ich glaube meine aller größte Angst ist , dass es mir nicht gelingt bei mir selbst zu bleiben, wenn es mir irgendwann mal wieder schlechter gehen sollte. So schlecht, wie es schon einmal war. Ich möchte niemanden mitnehmen, niemanden in meine Erkrankung mit hineinnehmen, niemanden „mit sterben“ lassen. Weil ich finde, dass jeder ein Recht auf sein eigenes, unbeschwertes Leben hat, so lange wie es nur geht….
Ich möchte mich nicht wie eine Ertrinkende an jemanden klammern und denjenigen mit unter Wasser nehmen, weil ich weiß dass damit das Leid für alle Betroffenen nur noch viel größer wird als es ohnehin schon ist….
Natürlich, wer mich kennt der weiß, dass ich schon sehr viel ruhiger geworden bin an dieser Stelle. Der Gedanke, dass auch ich sterblich bin weckt bei weitem nicht mehr dieselbe Empörung in mir, wie dies zu Beginn meiner Erkrankung der Fall war. Damals war es ohne Witz so, dass ich (zumindest emotional) daran geglaubt habe, dass der Tod nur andere betreffe. Geradezu unverschämt habe ich die Vorstellung empfunden, dass ausgerechnet ich sterben könnte…..
Dass der Tod keine Unverschämtheit darstellt, auch für mich nicht, das weiß ich nun schon lange. Aber trotzdem ist es eben so, dass ich in schwierigen Situationen in der Abwehr lande, nicht hinsehen kann, alles daran setzte nicht fühlen zu müssen….
Aber heute geht es mir besser, ich habe etwas mehr Distanz und damit taucht auch wieder das Bedürfnis auf mich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Im Moment fühlt sich das gut und richtig an, was ich daran erkennen kann, dass ich mich auf die Suche nach einen Buch gemacht habe, das schon ganz lange in meinem Regal steht, was ich aber noch immer nicht gelesen habe. Und das obwohl es von einem meiner Lieblingsautoren stammt…. das hab ich wohl intuitiv vermieden, wohl wissend, dass ich mit dem Thema das Irvin D. Yalom da behandelt, zu einem früheren Zeitpunkt nicht zurecht gekommen wäre.
Anders lässt sich das wirklich nicht erklären, denn Yallom begleitet mich schon seit so vielen Jahren und die meisten seiner Bücher habe ich geradezu verschlungen, weil sie so warm und so voll von tiefer Menschlichkeit sind.
So viele Türen hat mir sein Wissen um die menschliche Psyche geöffnet . Türen in mein eigenes Selbst, aber auch viele Türen die mir (in einem früheren Leben) Zugang zum Erleben meiner Klienten verschafft haben.
Ja, ich habe wirklich vieles gesehen, was da in den Tiefen schlummert. In meinen eigenen Tiefen schlummert. Und ich hab mich ausgesöhnt mit ganz vielem was schmerzlich gewesen ist in meinem Leben. Aber dieses Türchen, das er in diesem Buch aufmacht… das konnte ich in mir selbst bislang immer nur einen Spalt breit öffnen, dann musste ich ganz schnell wieder alles dran setzen, um es zu schließen. Geradezu eine Herkulesleistung, angesichts dessen mit welcher Wucht , das Leben gegen diese Tür geknallt ist. Ja, die Wucht war groß!!! So groß, dass es schlicht und ergreifend völlig unmöglich war das Türchen langfristig vollkommen verschlossen zu halten….
Die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit, ich schätze mal eine tiefere und schmerzlichere Wunde gibt es nicht, im menschlichen Leben. Und wie alle seelischen Wunden neigt sie wohl auch dazu sich auszubreiten, „Wundbrand“ zu entwickeln und die Schmerzen und das Leid zu vergrößern mit der sie nun einmal daher kommt, wenn wir nicht bereit sind sie ordnungsgemäß zu versorgen…
Zu meinen Klienten habe ich immer gesagt, dass es gilt das was uns schmerzt anzuschauen, dass es gilt die seelischen Wunden sorgfältig zu reinigen, sie auszuräumen, vom Unrat zu befreien damit sie in Ruhe heilen können……
Ja, und es ist wirklich so, ich glaube daran, ich habe das in so vielen Bereichen erlebt….dieses Wissen habe ich so vielen Menschen mitgegeben und auch ich selbst habe immer nach dieser Maxime gelebt. Und ganz ehrlich, es war wirklich ein gutes Leben, ein befriedigendes Leben, weil es mir Erfüllung geschenkt hat…innere Zufriedenheit
Und genau diese möchte ich mir erhalten. Ich wünsche mir, dass ich auch mit der größten aller seelischen Wunden irgendwann meinen Frieden schließen kann. Dass ich mir, egal was auch komme, meine Zufriedenheit erhalten kann und dass ich (irgendwann einmal, wenn der Zeitpunkt gekommen ist) in Frieden diesen Planeten verlassen kann.
Und deshalb möchte ich hinsehen, möchte nicht verdrängen, nicht verleugnen. Möchte das Türchen Stück für Stück öffnen, den Tod in mein Leben lassen. Nicht weil ich destruktiv oder deprimiert bin, sondern gerade weil ich leben möchte, weil er dazu gehört und weil er sich nun einmal nicht leugnen lässt.
Ja, mein liebes Tagebuch, ich würde sagen heute war ein guter Tag. Ein guter Tag weil ich mit beiden Beinen in „Hier und Jetzt“ war und weil ich ich bereit war hinzuspüren. Ich war spazieren, nicht besonders lange, aber immerhin. Und ich habe den Herbst genossen. Die bunten Farben, die er mit sich bringt, draußen in den Wäldern, in der Natur und in mir…in meinem Inneren….. tief in meinem Herzen